Hessingsche Heilanstalt

Die orthopädische Heilanstalt in Göggingen wurde 1868 von Friedrich Hessing gegründet und wuchs von 1896 bis 1906 zur größten europäischen Kur- und Heilanstalt heran. Jean Keller, konzipierte die Anlage im romantisch- neubarocken Stil mit Elementen der Gothik. Bis heute entwickelte sich die Heilanstalt zu einem modernen orthopädischen Kompetenzzentrum und zählt zu den führenden Einrichtungen Deutschlands.

 

Orthopädie im 19. Jahrhundert

Die Orthopädie des 19. Jahrhunderts wurde geprägt durch zahlreiche, private Heilanstalten. Als Auslöser galten große Fortschritte und Errungenschaften in der Medizin. Geprägt durch wiederkehrende Seuchen und zahlreiche Kriegsverletzten setzten sich vielfältige Veränderungsprozesse in Gang. Erste Hygienebewegungen mit dem Ziel, die Lebensverhältnisse in den wachsenden Industriestädten zu verbessern, kamen auf. Der medizinische Höhepunkt entstand mit der Entdeckung des Tuberkulose- und Choleraerregers durch Robert Koch. Die Orthopädie als eigenständiger medizinischer Behandlungsbereich existierte dagegen noch nicht. Nikolas Andry, französischer Kinderarzt, verwendete das Wort Orthopäde erstmals 1741. Er plädierte, Fehlbildungen und Feldstellungen von Kindern durch Stützapparate zu korrigieren. Er verglich den Orthopäden mit einem Gärtner, der versucht, fehlstehende Bäume durch Pfähle zu korrigieren.

Orthopädie im 19. Jahrhundert

Durch die industrielle Revolution verspürten die Städte einen stetigen Bevölkerungszuwachs, der sich zunehmend auf die gesundheitliche Versorgung auswirkte. Fehlende finanzielle Mittel, schlechte hygienische Bedingungen, Mangelernährung und Tuberkulose zählten zu den häufigsten Ursachen an Fehlbildungen. Dazu kamen zahlreiche körperliche Versehrtheiten. Um diese Missstände auszugleichen, versuchten interessierte, mechanisch begabte Laien durch orthopädische Eingriffe der Bevölkerung zu helfen. Diese kamen oftmals aus dem Bereich des Instrumentenbaus oder dem Schreinerhandwerk. Die erste deutsche orthopädische Heilstädte gründete Johann Heine in Würzburg. Es folgten zahlreiche weitere Neuanstalten. Als Inspiration der heutigen Hessing Klinik könnte die Armenheilanstalt in Stuttgart in Betracht gezogen werden. Der Gründer Friedrich Hessing absolvierte dort eine Weiterbildung als Harmoniumbauer. Erste Verbindungen dienten ihm später zur Gründung einer eigenen Heilanstalt in Augsburg.

Städtebaulicher Kontext

Göggingen liegt an den Flüssen Singold und Wertach und wird urkundlich zum ersten Mal im Jahr 969 erwähnt. Schon vor Beginn der Industrialisierung war Göggingen nicht nur landwirtschaftlich geprägt. Als Durchgangsstation auf dem Weg nach Augsburg lag Göggingen in zentraler Lage. Mit dem Beginn der Industrialisierung arbeitete sich Göggingen schnell zur Industriestadt hoch. Ein erstes größeres Unternehmen, die Zwirnerei und Nähfadenfabrik, siedelte sich im Jahr 1861 an, um die Wasserkraft des Singoldkanals zu nutzen. 1868 erwarb Friedrich Hessing das ehemalige Landsgerichtsgebäude in Göggingen, welches südlich der Zwirnerei und Nähfadenfabrik sowie östlich des Singoldkanals lag. Hier wurde am 30 August 1869 die erste Hessing´sche Heilanstalt eröffnet. Erweiterungen erfolgten unter anderem durch den Erwerb einer Ökonomie an der Augsburger Straße sowie des Ranner´schen Bauernhofs. Durch die orthopädischen Heilanstalten wurde Göggingen ab dem 19. Jahrhundert als Kurort überregional bekannt.

Johann Friedrich Hessing

Johann Friedrich Hessing wurde am 17. Juni 1838 in Schönbronn bei Rotenburg ob der Tauber geboren. Nach der Volksschule begann er eine Lehre als Gärtner, die er nach 2 Jahren abbrach und in das Schreinerhandwerk wechselte. Eine Bekanntschaft zu Georg Friedrich Steinmayer aus Öttingen ermöglichte ihm eine Stelle als Jungschreiner und später eine Spezialausbildung als Orgel- und Harmoniebauer in Stuttgart. 1862 wechselte Hessing zum Pianoforte-Hersteller Max Schramm bis er im Jahr 1866 seine Gewerbelizenz erlangte und sich in Augsburg nieder lies. Schon seit seiner Jugend beschäftigte er sich mit dem Bau orthopädischer Apparate. Durch die Unterstützung von Bürgermeister Ludwig Fischer sowie Medizinalrat Josef Kerschensteiner gründet Friedrich Hessing seine erste Orthopädische Heilanstalt in Augsburg.

Seine erste offizielle Anerkennung erlangte er 1890 auf dem 10. medizinischem Kongress in Berlin. Eine persönliche Ehrung wurde ihm 1904 zuteil, als er zum Bayerischen Hofrat und 1913 mit dem persönlichem Adel für seine beispielhaft geführten Bäder und Heilanstalten ausgezeichnet wurde. Am 16.3.1918 starb Hessing nach kurzer Krankheit und wurde auf dem Gögginger Friedhof beigesetzt.

Der Bauherr Hessing

Seine erste kleine Anstalt richtete er im Jahre 1868 im Haus des Badebesitzers Johann Eggensberger vor dem Jakobertor in Augsburg ein. Die vorhandenen Kapazitäten waren schnell erschöpft, weshalb er seine Anstalt nach Göggingen in das ehemalige Landgerichtsgebäude verlegte. Von 1896 bis 1906 erfolgten weitere Anbauten und Erweiterungen wie beispielsweise eine Neue Anstalt, eine Kirche und Wandelgänge.

Auf Grundlage seiner Erfolge errichtete er weitere Kuranstalten. Beispielsweise erbaute er 1879 in der Nähe von Bad Reichenhall eine große Kuranstalt, in Bad Kissingen und Bad Bocklet pachtete er Staatsbäder und baute sie erheblich um, in der Nähe von Rothenburg o. d. Tauber errichtete er das „Wildbad“.

Der Orthopäde Hessing

Während seine Heilanstalt von Beginn an in der Bevölkerung einen zunehmend guten Ruf erfreute, schritt sein Bemühen in der Wissenschaft nur langsam voran. Er besuchte zahlreiche Fachkongresse. Außerdem begab er sich auf Reisen und hielt dabei medizinische Sprechstunden ab. Fachärzte besichtigten seine Heilanstalt, doch ignorierten sie seine Heilmethoden oder lehnten sie als bloße „Kurpfuscherei“ ab. Es war jedoch eher der Standesdünkel der Akademiker, so zu urteilen. Hessings Impulse seiner Heilmethoden setzten sich im Laufe der Zeit jedoch durch.

Konzept der Heilanstalt

Jean Keller konzipierte das Hessing-Areal als ganzheitliche Anlage und richtete diese in Stil der Zeit ein. Eine eigens angelegte und ausgebaute Landwirtschaft versorgte die Anstalt mit pflanzlichen sowie tierischen Nahrungsprodukten. Eigene Werkstätten produzierten Produkte, Prothesen oder stellten orthopädische Geräte her. Ein eigenes Elektrizitätswerk wurde errichtet, welche die nahezu autonome Anlage mit Strom versorgt. Zur Unterhaltung und zum Ausgleich seiner Patienten ließ Hessing neben der Heilanstalt eine Kirche sowie ein Kurhaustheater von Jean Keller errichten. Seine Gäste sowie Patienten herbergten in einem Gästehaus, einer Burg. Diese wurde nach Plänen von Albrecht Gollwitzer, einem neben Jean Keller angesehen Augsburger Architekten gebaut. Es war Hessing von großer Bedeutung, ein Areal zu schaffen, in dem Erheiterung und abwechslungsreiche Atmosphäre geschaffen wurde.

Konzept der Heilanstalt

Was ist Original?

Das Hessing Areal wurde während der Weltkriege kaum zerstört. Jedoch folgten bereits zahlreiche Renovierungs- und Modernisierungsarbeiten, bei denen die Originalsubstanz stark verändert wurde. Das Gästehaus blieb in der Fassade erhalten. Einzelne Zimmer wurden zu Wohnungen umgebaut. Der Gartensaal wurde saniert und dient heute erlesenen Veranstaltungen. Die Wandelgänge wurde vermutlich während der zweiten großen Umbaumaßnahme um das Jahr 1968 abgerissen. Heute ist nurmehr ein einzelner Säulengang entlang der Hessingstraße zu betrachten. Auch die Heilanstalt wurde stark verändert. Der Mitteltrakt wurde abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, einzig die beiden Seitenflügel mit ihrer Fassade blieben erhalten. Die Anstaltskirche St. Johannes entspricht nahezu dem ursprünglichen Bau und ist das am Besten erhaltenste Gebäude.

Der eigens von Jean Keller entworfene Altar wurde in der Mittelachse des Chorraums angeordnet. Dieser aufwendig gezierte, aus Holz geschnitzte Altar weist einen überbordenden Altarschrein mit einer zentralen Kreuzigungsgruppe, bestehend aus dem gekreuzigten Jesus sowie Maria und Johannes, auf. Zur Rechten und Linken befinden sich Petrus und Paulus. Darüber sendet Gottvater den Heiligen Geist an die Heilung und Trost suchenden Menschen.

Die Fenster der Kirche zieren Glasmalereien des Gögginger Glaser- und Bürgermeisters Leo Eichleitner. In den Spitzbogenfenstern des Chorraums ist die Heilige Magdalena sowie eine heilige ohne Attribut zu sehen, diese symbolisieren «Anbetung» und «Opfer».

Die Giebelseite der Neuen Anstalt wird im Obergeschoss durch Lisenen gegliedert. Diese sind als Bandrustika ausgeführt und gehen in Ortssteine über. Die rechteckigen Fenster der unteren Geschosse sind durch einen Kämpfer und Sprossenstrukturen gegliedert. Sie werden mit einem Konsolbogen mit Schlussstein unterstrichen. Die äußeren Fenster des Obergeschosses sind mit hervortretenden Faschen versehen. Über dem Erd- sowie dem Obergeschoss folgt ein umlaufendes Gurtgesims. Über dem Gurtgesims des Obergeschosses wachsen aus den Lisenen hervorgetretene Sockel, die in Doppelpilaster übergehen und in einem Kapitell enden. Von den Sockeln ausgehend erstreckt sich ein weiteres Gurtgesims, welches durch Segmentbogenfenster des Dachgeschosses unterbrochen und an der Gebäudeecke in ein Kranzgesims mit Zahnschnitten überleitet. Das Dachgeschoss besticht durch Rundbogenfenster mit hervortretenden Fensterfaschen und Schlussstein. Über dem Mittelfenster ist ein Rundfenster angeordnet. Ein bekrönender, geschweifter Giebel, ausgebildet mit einer Halbkreisbogen-Verdachung, bildet den oberen Dachabschuss und steht über das Dachwerk hinaus. Daneben bekrönen Akroter die Giebelenden.
Von der Heilanstalt erhalten blieb auch ein Treppenhaus im Südflügel. Hier liegt ein besonderes Augenmerk auf dem aufwendig geschnitzten Holzbaluster des Treppengeländers, welches von Jean Keller eigens gestaltet wurde. Neben dem Treppengeländer besticht auch das im Original erhaltene historische Rechteckfenster. Dieses bemalte, mit feingliedrigen Sprossen versehene Fenster wurde von Glasermeister Leo Eichleitner gefertigt.

Was ging verloren?

Im Südflügel befand sich ein prächtig mit Arkaden geschmückten Speisesaal, welcher durch Umbau- und Modernisierungsarbeiten abgerissen wurde. Dieser erstreckte sich über zwei Geschosse mit einer Galerieebene, welche mit einem ornamental perforiertem Ziergitter umrundet war. Eine großflächige Deckenmalerei zierte die gesamtheitliche Saaldecke. Fürstliche Kronleuchter und reichlich geschmückte Tafeln ließen den Saal prunkvoll wirken. An den Saal grenzte ein Wintergarten, welcher ebenfalls abgerissen wurde. Dieser wurde als eine detaillierte, filigrane Glas-Eisenkonstruktion errichtet. Der Wintergarten wurde wie der Saal als zweigeschossiger, prunkvoller Baukörper errichtet. Hohe, mit Malereien des Glasmalermeisters Leo Eichleitner gestalteten Glaswände zierten das Gebäude.

Die Hessing-Stiftung

Am 6.2.1918, kurz vor Hessings Tod, bestimmte dieser in seinem Testament, dass sein gesamtes Vermö­gen in eine Stiftung eingebracht werden sollte, um den Erhalt und Fortbestand seiner Anstalt zu sichern. Die gegründete Hessing-Siftung ist seither Träger der Kliniken und wird – wie von Hessing testamentarisch verfügt – von der Stadt Augsburg verwaltet.

Seit ihrer Gründung hat sie sich ständig weiterentwickelt. Hervorgegangen aus einer orthopädischer Heilanstalt, entstanden im Lauf der Jahre verschiedene Fachkliniken und Werkstätten. Im Jahre 1950 wurden Orthopädische Werkstätten und Schuhtechnik als eigenständige Betriebe errichtet. 1967 folgte das Behandlungs- und Beratungszentrum. Im Jahr 1985 wurde das Zentrums für Orthopädische Rheumatologie und Rehabilitation errichtet und 1997 die Geriatrischen Rehabilitationsklinik.

Die aus vielfältigen Unternehmensbereichen bestehende Hessing-Stiftung ist heute einer der führenden Anbieter für orthopädische Dienstleistungen in Deutschland.